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Festival

Venedig-Analyse: Goldene Löwinnen

Geschichten über Frauen dominierten den Wettbewerb der 78. Mostra in Venedig. Folgerichtig legte die Jury um Bong Joon-ho ihren Fokus auf Filmemacherinnen: Vier Hauptpreise, inklusive der Goldene Löwe für "L'évènement" von Audrey Diwan, gingen an Frauen. Wir werfen einen genaueren Blick auf einen herausragenden Jahrgang.

Thomas Schultze12.09.2021 12:26
Audrey Diwan schrieb mit "L'évenément" Löwen-Geschichte
Audrey Diwan schrieb mit "L'évenément" Löwen-Geschichte Mostra Venedig /Andrea Avezzù

Schon während der Pressevorführung von Audrey Diwans "L'évènement" im Sala Giardino spürte man das Unbehagen des Publikums. Da war die Szene, in der die zunehmend verzweifelte Heldin des Films, Anne, mit eigenen Händen eine Abtreibung einzuleiten versucht, indem sie einen erhitzten Haken zwischen ihre Beine einführt. Oder zu einem späteren Zeitpunkt die Szene, als der Abort nach einem zweiten Besuch bei einer Engelsmacherin endlich stattfindet, auf einem Klo. Man hört das Platschen, dann schwenkt die Kamera mit dokumentarischer Ruhe nach unten und man sieht die Nabelschnur und den abgetriebenen drei Monate alten Fötus. Diese Bilder muss man erst einmal wegstecken. Sie gehen einem an die Nieren. Das soll auch so sein. Nach der Vorführung erzählte mir eine Bekannte, dass sie das Kino hatte verlassen und sich erst einmal hinlegen müssen. Draußen merkte man das Bedürfnis der Zuschauer, sich über das Gesehene auszutauschen, über die Verfilmung des autobiographischen Romans von Annie Ernaux zu reden, in der die Autorin ihre Ohnmacht angesichts einer ungewollten Schwangerschaft im Jahr 1963 thematisierte, in einer Gesellschaft nach dem Krieg, wo man nicht nur gebrandmarkt und ausgestoßen wurde, sondern auch Inhaftierung riskierte, wenn man eine illegale Abtreibung in die Wege leitete. Oder anders gesagt: Man hatte etwas Besonderes gesehen. Diesen Eindruck teilte die Jury der 78. Mostra in Venedig unter der Leitung von Cannes-Gewinner Bong Joon-ho. Die Entscheidung, "L'évènement" den Goldenen Löwen als besten Film des Wettbewerbs zu überreichen, sei einstimmig gewesen, sagt Bong: "Wir alle haben den Film geliebt!". Natürlich ist es auch ein politisches Statement. 13 Jahre nach der Goldenen Palme in Cannes für "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" von Cristian Mungiu und eineinhalb Jahre nach dem Großen Preis der Jury in Berlin für "Niemals selten manchmal immer" von Eliza Hittman, beides ihrerseits unvergesslich intensive Filme über junge Frauen, die eine Schwangerschaft vorzeitig beenden wollen, ist Abtreibung mehr denn je ein Reizthema. So sehr man beim Betrachten von Audrey Diwans Film mit dem Kopf schütteln mag ob der grenzenlosen Grausamkeit der Mitmenschen und einer Gesellschaft, die nur vordergründig mit Rock'n'Roll-Musik und progressiven Ideen in die Zukunft drängt, aber doch noch in einer finsteren Vergangenheit verhaftet ist, weil sie Frauen nicht zugestehen will, über ihren eigenen Körper zu verfügen, so sehr darf man nicht vergessen, dass diese Unmenschlichkeit gerade jetzt wieder passiert und Aufwind bekommt, auch in ehedem vermeintlichen Bastionen der Aufklärung. Aber die Entscheidung für "L'évènement" ist eben nicht nur ein politischer Akt. Weil es eben auch ein besonderer und herausragender Film ist, gerade in einem so fulminanten Wettbewerb, wie ihn Festivalchef Alberto Barbera im ersten Jahr nach seiner Wiederwahl auf die Beine gestellt hat. Natürlich hätte man auch "Die Hand Gottes" von Paolo Sorrentino den Hauptreis zusprechen können, diesen wunderbaren autobiographischen Jugenderinnerungen, die ein Neapel zeigen, in denen man zwar auch kleine Gauner und Striezis antrifft, aber das organisierte Verbrechen keine Rolle spielt. Der Große Preis der Jury und der Nachwuchspreis für Sorrentinos Alter ego, Filippo Scotti, unterstreichen, dass die Jury angetan war von dem wild fabulierenden Film. Gold hätte man sich auch gleich für den Eröffnungsfilm vorstellen können, dem wunderbaren "Parallele Mütter" von Pedro Almodóvar, der nach mehr als 30 Jahren erstmals wieder einen neuen Spielfilm in Venedig vorstellte und seinem jüngsten Meisterwerk, "Leid und Herrlichkeit", gleich ein weiteres hinzufügte, einer der schönsten Filme, die ein Mann jemals über Frauen gedreht hat. Fast zwingend wurde Almodóvars Muse, Penélope Cruz, die Coppa Volpi zugesprochen, auch wenn die Konkurrenz in diesem Jahr unheimlich groß war. Nie war die Spanierin, die übrigens auch in einem weiteren Wettbewerbsfilm, "Competencia Oficial", köstlich war als eigenwillige Filmregisseurin, besser als hier. Leidenschaftliche Fürsprecher hatte auch Michelangelo Frammartinos eigenwillig meditative Betrachtung "Il buco". Für den Hauptpreis war der Film aber vielleicht einen Hauch zu esoterisch: Der Spezialpreis der Jury erscheint genau richtig für diese sich allen Konventionen entziehende Arbeit. Aber auch einem der drei Wettbewerbsbeiträge aus dem ehemaligen Ostblock, dem ukrainischen Beitrag "Vidblysk", dem russischen Film "Captain Volkonogov Escaped" oder der polnischen Produktion "Leave No Traces", hätte man Gold durchaus zutrauen können. Dass diese Filme komplett ohne Auszeichnung blieben, ist ebenso schade wie das Ignorieren von "The Card Counter" von Paul Schrader, der sein vor fünf Jahren mit "First Reformed", ebenfalls im Wettbewerb von Venedig, begonnenes Comeback nahtlos fortsetzt. Vielleicht war der sehr männliche Blick diese Studie eines der "god's lonely men", die das Oeuvre des 75-Jährigen prägen, auch eine Spur zu toxisch. Preiswürdig erschien zumindest mir auch der von Komplizen Film produzierte "Spencer" von Pablo Larraín, ein als Märchen der Möglichkeiten gestaltetes Anti-Biopic über ein Wochenende im Leben von Lady Diana, von Kristen Stewart großartig gespielt als Frau, die nicht länger Dienerin sein will. Hätte sich gut gemacht im diesjährigen Kanon komplexer, faszinierend widersprüchlicher Frauen, die dem Wettbewerb den Stempel aufdrückten.

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