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Festival

CANNES Tag 7: Vive le Wes!

Eine Woche bereits läuft das 74. Festival de Cannes. Einen eindeutigen Palmenfavoriten sucht man weiter vergebens. Aber mit den neuen Filmen von Wes Anderson und Kirill Serebrennikov hatte der Wettbewerb gleich zwei Titel im Angebot, deren Vision jeweils absolut einzigartig und unverkennbar ist.

Thomas Schultze13.07.2021 09:43
Französischer geht nicht: "The French Dispatch"
Französischer geht nicht: "The French Dispatch" Searchlight

Ist "The French Dispatch" so gut wie "Rushmore" und "Die Royal Tenenbaums", die beiden frühen Meisterwerke des mittlerweile in Frankreich lebenden Texaners Wes Anderson, in denen er persönliche menschliche Anliegen mit seinem damals schon unverkennbaren, ausgetüftelten visuellen Ansatz verband - Filme über Kinder, die im Schatten übermächtiger Vaterfiguren stehen? Ist "The French Dispatch" so gut wie "Grand Budapest Hotel", das Meisterwerk der zweiten Phase von Andersons Karriere, eine penibel und scheinbar mit dem Geodreieck entworfene Fantasiewelt, die wie durch ein Brennglas einen Blick zulässt auf eine Gesellschaft am Rande des Faschismus? Valide Fragen, die auf Antwort drängten. Weil Wes Andersons erstem Film seit "Isle of Dogs - Ataris Reise", der 2018 die Berlinale eröffnete, auf dem 74. Festival de Cannes ein wenig die Rolle zukommt, die Quentin Tarantinos "Once Upon a Time in Hollywood" bei der jüngsten physischen Ausgabe vor zwei Jahren eingenommen hatte: der eine große Film, um den sich das Festival dreht, auf den das Festival wartet, auf den hin sich das Festival verdichtet, der eine Film, der funktionieren muss. Ein ungerechtes Ansinnen, weil Andersons Filmen, selbst den frühen, die noch einen erkennbaren menschlichen Puls hatten, per definitionem nicht den energetischen, alles umarmenden Überschwang Tarantinos haben. Es sind keine Filme, die man miterlebt. Es sind Filme, die man betrachtet. Daraus beziehen sie ihren Reiz.

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Deshalb mag es der Anderson-Gang, die, ganz untypisch für Cannes, nicht in schwarzen Limousinen zum roten Teppich gefahren wurde, sondern gemeinsam in einem großen Bus ankam, zwar gelungen sein, von Timothee Chalamet über Tilda Swinton bis Bill Murray (aber ohne Léa Seydoux, der nach ihrer Corona-Erkrankung immer noch der befreiende doppelte Negativtest fehlt), für Begeisterung zu sorgen in der Menge vor und im Palais de Festival. Aber "The French Dispatch", der bereits vor einem Jahr in die Sélection officielle des wegen Corona abgesagten Festivals aufgenommen worden war, aber wie "Benedetta" ein Jahr und Angebote anderer Festivals verstreichen ließ, um unbedingt in Cannes Weltpremiere zu feiern, ist nicht die Art von Film, der ein Publikum elektrisiert und vom Sessel reißt, der die große Welle macht. Dafür ist er zu fein und zu durchkomponiert, der Welt obsessivstes Wimmelbild, explodierend vor Ideen, Verweisen und Einfällen, die aber immer streng angeordnet sind in diesem hermetisch in den Maßen der Leinwand abgeschlossenen Universum. Hier verdichtet sich Andersons filmischer Ansatz noch weiter, erreicht er eine so große Perfektion und Meisterschaft im Umgang mit seiner Palette, dass man nicht falsch liegt, wenn man vom Beginn der dritten Phase in der Karriere des amerikanischen Filmemachers spricht. Es ist kein Film über die Menschen geworden, die in Frankreich ein amerikanisches Magazin im Stil des New Yorker machen. Es ist noch nicht einmal ein Film über das titelgebende literarische Magazin geworden. Es ist ein Film wie ein literarisches Magazin. Man blättert ihn durch. Wie Anderson sich vorstellt, dass es sich anfühlen soll, wenn man sich durch ein Magazin blättert. Im gleichen Maße ist es ein Film geworden, der Frankreich so abbildet, wie es sich vor Andersons innerem Auge zusammensetzt. Ein Frankreich, in dem die Menschen schnell französisch sprechen, französische Zigaretten rauchen, formidabel französisch aussehen. Man kann sich nicht sattsehen. Mehr Fantasie geht nicht.

Während "Die Royal Tenenbaums" mit dem Tod des Patriarchen endet, beginnt "The French Dispatch" mit dem Ableben eines solchen. Im Alter von 75 Jahren ist der Begründer, Herausgeber und Chefredakteur des "French Dispatch" gestorben. Er hat das, was als Beilage einer kleinen lokalen Zeitung ausgerechnet in Kansas begann und dann nach Frankreich verlegt wurde, in die fiktive Stadt Ennui-sur-Blasé , die so aussieht, wie sie klingt oder als hätte man das Paris von "Amélie" als Modell nachgebaut, zu einer Institution gemacht mit einer halben Mio. Abonnenten rund um die Welt und den besten Autoren, die man mit Geld und der Aussicht darauf, 12.000-Wörter-Artikel schreiben zu dürfen ködern kann. Mit seinem Tod soll das Blatt eingestellt werden; die Ausgabe mit seinem Nachruf soll die letzte sein. Und Wes Anderson hat diese letzte Ausgabe verfilmt: ein Nachruf, ein paar Magazinseiten, drei große Geschichten - ein Anthologiefilm, wie man sie in Europa in den Sechzigerjahren gerne gedreht hat, die Zeit, in der "The French Dispatch" womöglich stattfindet. Mit Owen Wilson macht man eine Stadtrundfahrt auf dem Velo. Mit Tilda Swinton taucht man ein in die Welt eines von Benicio Del Toro mit dem Knurren des fantastischen Mr. Fox gespielten psychopathischen Killers, der sich im Gefängnis unter Aufsicht der strengen Aufseherin Léa Seydoux als Genie erweist. Mit Frances McDormand geht man auf die Barrikaden, wenn Studenten unter Führung von Timothee Chalamet mit dem Bürgermeister ein Schachspiel um die Zukunft der Stadt beginnt. Mit Jeffrey Wright, der Habitus und Kadenzen von James Baldwin so perfekt verinnerlicht, dass man vor Freude jauchzen will, will man einem kulinarischen Genie auf die Spur kommen und gerät mitten hinein in eine Entführung und die halbseidene Seite von Ennui. Und am Schluss nimmt man Abschied. Von Bill Murray, der den Gründer des "French Dispatch" gespielt hat. Von einer Welt, die so vermutlich nie existiert hat, aber unbedingt so hätte existieren müssen, damit man sich von ihr verabschieden kann. Von einer besonders elitären Form des Journalismus. Von einer Schauspielerriege, die namhafter nicht hätte sein können, sich aber begnügt mit teilweise winzigen Auftritten, um Wes Anderson dabei zu helfen, seine Vision zu verwirklichen (wer mit den Augen zwinkert, verpasst vielleicht Elisabeth Moss, Christoph Waltz, Willem Dafoe, Mathieu Amalric, Saoirse Ronan, Edward Norton oder Liev Schreiber). Von skurrilen Figuren, die auf wunderbare Namen hören wie Zeffirelli jr, Nescaffier, Lucinda Kremenz, Arthur Howitzer Jr. oder Moses Rosenthaler. Und von diesem Film, dem man Unrecht tut, wenn man ihm ankreidet, dass er einen emotional nicht erreicht. Weil das nicht seine Absicht ist. Weil er nichts anderes will, als eine Welt aufzublättern, durch die man sich als Zuschauer staunend und sich wundernd durchblättert. Und sich freut, dass man für die Dauer von 103 Minuten Teil von ihr sein darf.

Auf keinen Fall will man indes Teil der Welt sein, die der große russische Regisseur Kirill Serebrennikov für "Petrov's Flu" gestaltet hat, seinen zweiten Besuch im Wettbewerb in Cannes nach "Leto" vor drei Jahren. Dabei ist sie nicht minder fantasievoll und wundersam wie Wes Andersons. Doch während Anderson seine Einfälle hermetisch abriegelt, fein säuberlich anordnet, fliegt einem Serebrennikovs Fantasie förmlich um die Ohren. Die Bilder explodieren in alle Richtungen, mit einer so unbändigen und wilden und rücksichtslosen Energie, dass man sich bisweilen an seinen Kinosessel klammert, weil man fürchtet, man könne weggerissen werden von dem Trip durch eine urbane winterliche Höllenlandschaft. Ein Vergnügen ist sie nicht, diese massive Frontalattacke auf alle Sinne, mit ihrer entfesselten Kamera, den schreienden, ins Bild und wieder hinaus stolpernden Gestalten, dem bis zum Anschlag aufgerissenen Sound und den ständigen Perspektiv- und Szenenwechseln, die das Team des Regisseurs in einer logistischen und kreativen Meisterleistung orchestriert hat. Keine Atempause, Chaos wird gemacht. Ein Film, als würde einem der Zahnarzt auf einen offenen Nerv gehen. Ist es sicher?

Petrov hat eine Grippe, die er einfach nicht loswird. Er hustet und schnieft und rotzt und schwitzt mehr als der Landpfarrer in Bergmans "Licht im Winter". Das will etwas heißen. Mit dem hatte man schon nicht tauschen wollen. Petrov ist ein Häufchen Elend, aber er ist immer in Bewegung. Einen Tag in seinem Leben folgt ihm der Film. Aber was heißt das schon, wenn nie klar sein kann, ob das Gezeigte gerade wirklich passiert, eine vom Fieber induzierte Fantasie oder eine Erinnerung ist oder die Vorstellung davon, dass es eine Erinnerung sein könnte. Gleich in der ersten Szene stolpert Petrov aus einem voll besetzten Bus und wird von einer Miliz rekrutiert, an einem Erschießungskommando teilzunehmen: Ein paar reiche Säcke sollen zahlen. Rattatattatatat. Echt? Nicht echt? Egal. Serebrennikov hat es gefilmt, wir haben es gesehen. So geht es weiter. Jede Einstellung atmet Krankheit, Fäulnis, Gewalt, eine Gesellschaft löst sich von innen heraus auf. Einen ätzenderen Kommentar auf das Russland von heute könnte man sich kaum vorstellen. Ein gescheiterter Schriftsteller begeht Selbstmord, Petrov hilft, den Abzug zu ziehen. Eine Bibliothekarin erledigt einen rüden Besucher mit ein paar coolen Martial-Arts-Moves und prügelt ihn zu Matsch - habe ich im Kino gesehen, sagt sie. Vielleicht ist sie aber auch eine echte Superheldin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Stadt von gewalttätigen Männern zu befreien. Da hat sie viel zu tun. Wenn das wirklich so sein sollte, dann weiß zumindest Petrov nichts davon. Menschen haben auf offener Straße Anfälle. Es wird geschrien, gesoffen, geraucht. Tote befreien sich allein aus ihren Särgen. Alles normal, nichts zu sehen, weitergehen.

Bei diesem Durcheinander, auf das Robert Altman stolz wäre, als hätte eine der surrealen Sozialsatiren Bunuels Tollwut bekommen, ist es nicht immer leicht, den Überblick zu bewahren, die Zusammenhänge zu erkennen, die vielen Rätsel zu lösen, die der Film aufgibt. Das ist aber auch nicht unbedingt wichtig. Weil die Botschaft trotzdem ankommt: Der beißende Sarkasmus ist so radikal, dass Kirill Serebrennikov nicht einmal vor sich selbst Halt macht und seiner Arbeit als gefeierter Theaterregisseur am Gogol Zentrum in Moskau: Ein Trupp Schauspieler geriert sich wichtig, gespreizt - und entpuppt sich dann doch nur als Gruppe, die auf einem Kinderfest gute Laune macht. So inszeniert ein Mann, der in Flammen steht. Verständlich: Mehrere Jahre - während der Entstehung von "Leto" - verbrachte er im ewigen Clinch mit den Autoritäten in Hausarrest; im vergangenen Jahr wurde er der Veruntreuung schuldig gesprochen und darf das Land nicht verlassen. Aber er darf Filme machen, die nach außen stülpen, wie es in ihm innendrin aussieht. Die Hölle kennt keinen Zorn, der schlimmer ist als der eines zum Äußersten getriebenen Filmemachers. Gut, dass Cannes ihm eine Bühne bietet.

Aus Cannes berichtet Thomas Schultze.

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