Blickpunkt:Film

Produktion

Autor und Regisseur [Mike Cahill](/person/mike-cahill) zählt zu den aktuell interessantesten unabhängigen amerikanischen Filmemachern. Seine Filme, so er sie realisieren kann, sind unverkennbar. Sie tragen eine ganz eigene Handschrift bei dem Bemühen, oftmals große Konzepte über Spiritualität und Philosophie mit geerdeten emotionalen Narrativen voller existenzieller Fragen zu eigenwilligen Science-Fiction-Stoffen zu verbinden. "[Bliss](/movie/bliss_d)" mit [Owen Wilson](/person/owen-wilson) und [Salma Hayek](/person/salma-hayek) in den Hauptrollen, der erste Film des 41-jährigen Autorenfilmers aus New Haven seit ["I Origins - Im Auge des Ursprungs"](/movie/i-origins-im-auge-des-ursprungs) aus dem Jahr 2014, bildet keine Ausnahme. Der Film wurde von den Amazon Studios produziert und startet heute im Angebot von Prime Video.


Was kommt bei Ihnen zuerst: Verstand oder Herz?


MIKE CAHILL: Gute Frage... Keine Ahnung... Was meinen Sie?


Weil sich Ihre Filme um große Fragen drehen und spirituelle Konzepte auf den Prüfstand stellen, weil sie so präzise ausformuliert und penibel gedreht sind, würde man vermutlich sagen: Verstand. Ich denke aber, dass Sie in Wahrheit ein großer Romantiker sind. Also Herz...


MIKE CAHILL: Ha, damit kann ich leben. Emotion ist die entscheidende Triebfeder meiner Arbeit. Bei "Bliss" wollte ich eine Geschichte erzählen über die Zerbrechlichkeit des Verstands. Das hat mich ungeheuer beschäftigt, dafür konnte ich großes Interesse und Zärtlichkeit aufbringen. Ich wollte die Geschichte mit Empathie erzählen. Denken Sie an Menschen in ihrem eigenen Leben, jemand, den Sie lieben, oder ein Familienmitglied, der die Welt aus einer ganz anderen Perspektive erlebt als Sie. Dafür kann es verschiedene Gründe geben - vielleicht stimmt etwas nicht mit seinem Geisteszustand, er nimmt die Welt verzerrt wahr, er ist fragil. Was so weit gehen kann, dass man sich in ein und demselben Raum befindet mit ihm und sich doch in völlig anderen Realitäten bewegt. Was man sieht und spürt und aufnimmt, ist eine Reflektion des jeweils eigenen emotionalen Zustands. Unter solchen Umständen ist es fast unmöglich, einander zu erreichen, es gibt keine Gemeinsamkeiten. Das bildet hier die Basis für eine Liebesgeschichte, in der eine Tochter versucht, ihren Vater wiederzugewinnen, der in eine andere Welt abdriftet - aber erzählt aus der Sicht des Vaters, der seine Tochter oft nur aus der Distanz oder am Rand wahrnimmt.


Das ist eine ungewöhnliche Perspektive.


MIKE CAHILL: Ich kann es schwer in Worte fassen, aber diese Idee hat mich zutiefst bewegt, diese aussichtslos erscheinende und doch tief empfundene Liebe, die aber schließlich doch einen Unterschied macht. Die Tochter muss miterleben, wie ihr Vater in einer anderen Welt untergeht, einer Welt, die in seinem Kopf entstanden ist, ohne dass er Einfluss darauf hat. In einer anderen Welt verloren gehen - so funktioniert Science-Fiction: Sie nimmt das Metaphorische wörtlich, findet greifbare Bilder für eine Idee. Das mag verkopft sein, aber die Emotion kommt zuerst. Meine Schauspieler stellen diese Fragilität so überzeugend dar, dass es mich zutiefst berührt. Man könnte die Geschichte auch ohne Science-Fiction erzählen. Aber für mich ist das der Witz, dieser Ansatz öffnet den Raum für Deutungsmöglichkeiten, lässt etwas Ernstes auch verspielt sein, zieht eine intellektuelle Ebene ein. Aber das Herz kommt zuerst. Immer.


Wie nehmen Filmideen bei Ihnen Form an? Was kommt zuerst: ein Bild, eine Idee, eine Figur, eine Prämisse?


MIKE CAHILL: Ich habe längere Zeit in Venice Beach in Südkalifornien gelebt. Man kann nicht umhin, die vielen obdachlosen Menschen dort wahrzunehmen, geistig verwirrte Menschen, Menschen, die den Boden unter den Füßen verloren haben. Es ist eine Tragödie, es bricht einem das Herz. Am schlimmsten ist, dass sie unsichtbar sind. Überall in Los Angeles gibt es kleine Zeltsiedlungen, in denen Obdachlose hausen. Die Menschen fahren auf dem Weg zur Arbeit an ihnen vorbei und nehmen das einfach hin. Es berührt sie nicht, sie sehen es, aber nehmen diese Menschen in ihrer Mitte nicht wahr. Mir macht das zu schaffen. Ich denke, dass sich hier der Ursprung von "Bliss" findet. Ich hatte außerdem viel über Simulationstheorie gelesen, weil, ja, Herz zuerst, aber schon auch Kopf... Das bestreite ich nicht. Ich beschäftige mich intensiv damit, was Realität wirklich ausmacht, ob es Dinge gibt, die über das hinausgehen, was uns unsere Augen zeigen. Da muss mehr sein. "Bliss" führt diese unterschiedlichen Motive zusammen. Die Gemeinsamkeit ist einfach, dass sie mich persönlich interessieren und beschäftigen.


Platos Höhlengleichnis, richtig?


MIKE CAHILL: Platos Höhlengleichnis. Eine Welt in einer Welt. Von ["Der Zauberer von Oz"](/movie/der-zauberer-von-oz) zu ["Matrix"](/movie/matrix), von "[Horton hört ein Hu!](/movie/horton-hoert-ein-hu)" zu Jordan Peeles "[Wir](/movie/wir_3)", von ["Inception"](/movie/inception) zu ["Vergiss mein nicht"](/movie/vergiss-mein-nicht_3) oder ["Die Truman Show"](/movie/die-truman-show). Das hat Filmemacher immer schon fasziniert und beschäftigt. Weil es das ist, was wir machen: In einem Film erschaffen wir eine eigene Welt in unserer Welt. Dem liegt eine zutiefst theologische Fragestellung zugrunde: Gibt es ein Paradies? Was ist da noch, dass wir mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können? "Bliss" ist meine Version dieses Ansatzes.


Ihre Filme sind Expeditionen, Forschungsreisen in unbekanntes Territorium. Wie viel davon entdecken Sie während der Reise? Oder steht alles schon fest, wenn die erste Klappe fällt?


MIKE CAHILL: Das Geschenk des Filmemachens ist, dass man keine Insel sein kann. Die erste Drehbuchfassung habe ich Ende 2016 geschrieben. Ich bereite mich sehr gut vor, beschäftige mich intensiv mit dem Thema und den Figuren. Ich habe lange am Drehbuch gefeilt, weil ich wissen muss, was ich erzählen, was ich zeigen will. Aber ist dann doch nur der Ausgangspunkt für die Reise, die unerwartete Abzweigungen nehmen kann, nehmen soll. Der Spaß liegt in der Entdeckung beim Machen und im Teilen meiner Vision mit den kreativen Mitstreitern. Wenn man mit den Schauspielern zu arbeiten beginnt, nimmt das, was zuvor nur im eigenen Kopf existiert hat, Leben an, ist nicht mehr nur mit den eigenen Ideen erfüllt, sondern mit dem, was die Schauspieler mit dazubringen, wie sie die Geschichte und ihre Figuren sehen. Das ist besonders, weil man seinen Stoff in diesem Moment veräußert, aus der Hand gibt. Und dabei ergeben sich Dinge, die man nicht vorhersehen kann. Was vorher ein langer, trockener Dialog war, wird vielleicht auf den Austausch eines Blicks verengt, der mehr aussagt als viele Worte. Das ist die eigentliche Magie des Filmemachens. Weil es ein Geschenk ist, mit dem man im Schneideraum arbeiten kann. Da laufen dann die Fäden zusammen, hier entdeckt man die Emotion, die am Ende des Films stehen soll.


"Bliss" ist nach "I Origins - Im Auge des Ursprungs" Ihr zweiter Film mit dem deutschen Kameramann Markus Förderer. Was zeichnet ihn aus?


MIKE CAHILL: Ich liebe Markus, er ist mein wichtigster kreativer Mitstreiter. Ich habe eine so eigene Vorstellung davon, wie meine Filme aussehen, wie sie sich visuell anfühlen sollen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemals einen Kameramann zu finden, mit dem ich auf Augenhöhe arbeiten kann. Bei meinem Debüt ["Another Earth"](/movie/another-earth) hatte ich selbst Kamera geführt. 2012 wurde ich damit nach Locarno zum Filmfestival eingeladen. Dort lief auch ["Hell"](/movie/hell_7) von [Tim Fehlbaum](/person/tim-fehlbaum), ebenfalls ein Regiedebüt, bei dem Markus das Licht gesetzt hatte. Ich war völlig von den Socken. Der Film hatte eine so intensive Bildsprache, einen brillanten Umgang mit Licht und Schatten, der hundertprozentig meiner Vorstellung von Ästhetik entsprach. Ich musste Tim und Markus unbedingt kennenlernen. Daraus entstand eine gute Freundschaft mit beiden. Und eine tolle Zusammenarbeit mit Markus. Ich kann ihn nicht genug loben.


Ihre Filme sind sehr speziell. Fällt es Ihnen leicht, Sie an den Start zu bringen? Seit "I Origins - Im Auge des Ursprungs" sind sieben Jahre vergangen...


MIKE CAHILL: Ich mache unabhängiges Kino, das nicht unbedingt das ganz große Publikum bewegt. Ganz einfach war es nicht. Aber entscheidend ist, dass ich meine Filme machen kann, auch wenn es etwas dauert. Mit James D. Stern hatte ich einen tollen Produzenten, und als Amazon Studios an Bord kam, haben sie mir immer den Rücken gestärkt, den Film zu machen, wie er mir vorschwebte. Das bedeutete für mich, das Budget so niedrig zu halten, wie es irgend möglich war. Alles war sehr knapp kalkuliert. Aber wenn das der Kompromiss ist, damit ich meine Filme machen kann, dann kann ich damit leben. Ich verspreche, dass bis zum nächsten Film nicht wieder sieben Jahre vergehen.


Das Gespräch führte Thomas Schultze.

Mike Cahill zu "Bliss": "Das Herz kommt zuerst"