Blickpunkt:Film

Festival

Das virtuelle Toronto ist elektrisiert von ["Nomadland"](/movie/nomadland), der einen Tag nach seiner Premiere am Freitag in Toronto und Venedig den Goldenen Löwen der 77. Mostra gewinnen konnte. Man redet auch über die ersten dicken Deals im digitalen Markt, allen voran Leonine, die sich gleich zum Auftakt des Festivals die deutschen Rechte an dem neuen [Guy Ritchie](/person/guy-ritchie) sichern konnten, nachdem die Münchner in diesem Frühjahr bereits Ritchies ["The Gentlemen"](/movie/the-gentlemen) erfolgreich auswerten konnten. Und dann ist da natürlich der weltweite Deal von Netflix für "[Pieces of a Woman](/movie/pieces-of-a-woman)" von [Kornél Mundruczó](/person/kornel-mundruczo), für den Hauptdarstellerin [Vanessa Kirby](/person/vanessa-kirby) sich die Coppa Volpi als beste Schauspielerin sichern konnte.


Aber man kann auch auf Entdeckungsreise gehen, vermeintlich kleineren Titeln einfach einmal eine Chance geben, die ihren ganz eigenen faszinierenden Reiz entfalten und unterstreichen, wie vital das Kino als Kunstform nach wie vor ist. Zum Beispiel "[Monday](/movie/monday_a)" von dem Griechen [Argyris Papadimitropoulos](/person/argyris-papadimitropoulos), der vor vier Jahren mit "[Nacktbaden](/movie/suntan)" aufgefallen war. Wenn man den Begriff "Expats" hört, muss man unweigerlich denken an das Paris der Zwanziger- und Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, wo hedonistische Ausschweifungen und freizügige Exzesse Ausdruck für ein Lebensgefühl waren, das man sonst vielleicht noch mit dem Kreuzberg der Siebzigerjahre in Verbindung bringt: Alles geht. Heute Spaß, morgen tot. Wenn man Papadimitropoulos Glauben schenken darf, ist die Karawane weitergewandert: Athen ist das neue Sammelbecken für all die, die der Verantwortung in der Heimat aus dem Weg gehen wollen. In dieser Welt ist "I Feel Love" von Donna Summer immer noch brandaktuell, mit den wogend-wummernden Sequencer-Beats eine Art Nationalhymne für die Partynation. Und der Soundtrack für das Kennenlernen von zwei jungen Amerikanern, Grace und Mikey, an einem heißen Sommerabend, der für sie darin endet, dass sie am nächsten Morgen nackt nebeneinander am Strand aufwachen. Startpunkt für eine Amour fou, deren verrücktes Hochgefühl nach und nach vom Alltag eingeholt wird und der bitteren Erkenntnis, das Beziehungen selbst im easygoing Athen harte Arbeit sind.


Chloe, gespielt mit einer berauschenden Körperlichkeit von der Entdeckung [Denise Gough](/person/denise-gough), ist eine engagierte Anwältin, die nach einer gescheiterten Beziehung eigentlich wieder auf dem Absprung in die USA ist. Mikey, dargestellt von [Sebastian Stan](/person/sebastian-stan), der einmal mehr unterstreicht, dass er nicht nur als [Winter Soldier](/movie/the-return-of-the-first-avenger) im MCU eine gute Figur abgibt, sondern sich besonders in kantigen Indiefilmen wie ["Destroyer"](/movie/destroyer) oder "[Endings, Beginnings](/movie/endings-beginnings)" wohlfühlt, ist ein Hallodri, der sich durchs Leben improvisiert und Verantwortung verabscheut. Immer wieder ist in Papadimitropoulos' überschäumendem Film Freitag, immer geht gerade das Wochenende los. Bis sich der Montag eben nicht länger vermeiden lässt, auf den Rausch der Kater folgt und das Wolkenkuckucksheim, das sich die beiden Liebenden eingerichtet haben, unter der Last des wahren Lebens unweigerlich zusammenbricht: Am Ende, wenn sich die beiden, die sich küssten und mittlerweile schlagen, entscheiden müssen, wie es weitergeht, weil sich die Zeit nicht anhalten lässt, herrscht Ungewissheit, aber immerhin nicht Hoffnungslosigkeit. Zum Glück, weil man als Zuschauer gerne seine Zeit verbracht hat mit den beiden Hauptfiguren in der Partyhauptstadt Athen.


Von einem Leben im ewigen Wartezustand erzählt auch "[Limbo](/movie/limbo_3)". Ansonsten könnte das Debüt des Schotten [Ben Sharrock](/person/ben-sharrock) kaum weiter entfernt sein von "Monday" und dessen ausschweifenden Bildern: Hier geht es um Refugees, die aus Afrika geflüchtet sind und nun in einer, wie es den Anschein hat, Zehn-Seelen-Gemeinde im Norden Schottlands direkt am Meer ausharren und darauf warten müssen, ob ihren Asylanträgen stattgegeben wird. Es ist eine besondere Art der Vorhölle, Limbo eben. Zunächst fühlt man sich in den etwas starren Tableaus mit ihrem Deadpan-Humor erinnert an das Kino eines [Aki Kaurismäki](/person/aki-kaurismaeki) oder [Jim Jarmusch](/person/jim-jarmusch): Was könnte merkwürdiger sein als das Paradies als der Anblick einer Gruppe von Arabern und Schwarzafrikanern, die von zwei ungelenken Sozialarbeitern zu den Klängen von Hot Chocolate beigebracht bekommen, dass man in Schottland Frauen beim Tanzen ohne deren Einverständnis nicht begrapschen darf. Oder wenn ein junger Syrer im einzigen Supermarkt vom pakistanischen Verkäufer gezeit wird, er solle ihn nicht länger als "Paki" rassistisch diskriminieren.


Traurig und lustig ist das zugleich, bis sich die Handlung dem eisig kalten Wetter anzupassen und die so simplen Bilderfolgen sich zu einer komplexen Konstruktion aufbauen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Schon gar nicht für den jungen Syrer Omar, der seine Eltern in Istanbul zurückgelassen hat, während sein Bruder sich in der Heimat dem Kampf stellt: Für Omar gibt es kein Vorwärts und Rückwärts, bis er nicht den Bescheid der britischen Behörden erhält. Er kann nicht einmal seine Oud spielen, weil es sich einen Arm gebrochen hat. Sinnbild für seine gesamt Situation. So muss er mitansehen, wie die zwei Brüder aus Schwarzafrika, mit denen er in einer Hütte lebt, wieder deportiert werden sollen, während er mit seiner Entscheidung ringt, die Familie zurückgelassen zu haben. Das klingt bitterer als Sharrocks Film es ist, der auf wahren Schicksalen beruht und sich vor allem durch seine bedingungslose Parteilichkeit auszeichnet: Er steht auf der Seite der Flüchtlinge, wie er auch auf Seite der Einheimischen ist: Jeder hat hier sein Päckchen zu tragen. Und nur zusammen wird es leichter.


Das ist, ganz grob gesprochen, auch die Botschaft von "[Penguin Bloom](/movie/befluegelt-ein-vogel-namens-penguin-bloom)" von dem australischen Fernsehregisseur [Glendyn Ivin](/person/glendyn-ivin), der für seinen ersten Kinofilm Stars wie [Naomi Watts](/person/naomi-watts) oder [Andrew Lincoln](/person/andrew-lincoln) aus "[The Walking Dead](/tvshow/the-walking-dead_9)" gewinnen konnte. Allerdings fühlt man sich unentwegt manipuliert in dieser Geschichte einer Mutter, die nach einem Urlaubsunfall in Thailand querschnittsgelähmt ist und erst durch eine von der Familie aufgenommene, herrenlose Elster wieder neuen Lebensmut fassen kann. Kein Klischee wird hier ausgelassen, während Watts hier in einem der spektakulärsten Häuser der Filmgeschichte mit dem tollsten Ausblick, den man sich wünschen kann, am Leben verzweifelt. Der Film ist sauber gemacht, gut gespielt. Aber für mich war das nichts.


Thomas Schultze

TORONTO Tag 3: Montag am Sonntag