Blickpunkt:Film

Kino

Blickpunkt:Film: Liegt "Intimacy" mit seinen freizügigen Sexszenen im Trend von französischen Filmen wie [Catherine Breillat](/person/catherine-breillat) "[Romance](/movie/romance_e)" oder [Virginie Wagons](/person/virginie-wagon) "[Le secret](/movie/das-geheimnis_e)"?


Patrice Chéreau: Es besteht eine Tendenz im internationalen Film, sich Fragen über Sex und Liebe zu stellen. Physische Liebe ist wie ein Rätsel, das man lösen möchte. Vielleicht gibt der französische Film offene Antworten. Ich sehe "Intimacy" mehr in Verbindung mit [Ingmar Bergman](/person/ingmar-bergman), der sich schon in den sechziger Jahren mit dem Thema beschäftigte und schockierte. Dass manche Kritiker den Film mit [Bertoluccis](/person/bernardo-bertolucci) "[Der letzte Tango in Paris](/movie/der-letzte-tango-in-paris)" assoziieren, wundert mich. Ich zeige nicht nur harten Sex, sondern auch eine unglaubliche Zärtlichkeit zwischen zwei Menschen, die auf Nähe und Beziehung hoffen, was sich am Ende aber nicht erfüllt.


BF: Ist die Zeit der romantischen Liebesfilme mit Happy End vorbei?


PC: Um mich herum sehe ich nur getrennte Paare. Heute suchen wir nicht nur nach Freiheit, sondern nach neuen Formen des Zusammenlebens. Es gibt starke Beziehungen, aber nach anderen Gesetzen - nicht mehr nur die Konstellation Mann, Frau, Ehe. Wir müssen eine andere Definition von Liebe finden. Diese Umbruchphase ist schwierig, aber auch gefährlich und interessant.


BF: Erstmals drehten Sie in Englisch.


PC: Ich arbeite gern außerhalb Frankreichs. Als ich das Buch von Hanif Kureishi las, dachte ich sofort an Bilder von London und englische Schauspieler. Die Zusammenarbeit mit Kerry Fox und [Timothy Spall](/person/timothy-spall) war eine extrem gute Erfahrung - wie auch mit Kureishi. Wir haben uns einmal monatlich in London in einem Hotelzimmer getroffen, um zusammen aus dem Roman "Intimacy" und der Shortstory "Nightlight" eine runde Geschichte zu schaffen.


BF: Könnten Sie sich vorstellen, mal mit Hollywoodschauspielern zu arbeiten?


PC: Hollywoodschauspieler ja, Hollywood nein. Ich drehe jetzt einen Film nach einem amerikanischen Drehbuch mit einem amerikanischen Schauspieler, hoffe aber, es wird ein guter europäischer Film.


BF: Nach "[Wer mich liebt, nimmt den Zug](/movie/wer-mich-liebt-nimmt-den-zug)" produzierte wieder [Charles Gassot](/person/charles-gassot).


PC: Darüber bin ich froh, man sollte nicht ständig den Produzenten wechseln. Das Schlimmste ist ein Produzent, der durch Abwesenheit glänzt. Da fühlt man sich oft sehr allein. Gassot versteht mich und weiß, wie man effektiv arbeitet. Er ist präsent, ohne mir über die Schulter zu gucken. Als Regisseur braucht man einen starken Produzenten. Nicht einen, der sich als Lehrer aufspielt, sondern einen Partner, der das Projekt begleitet und bei Problemlösungen hilft.


BF: Und der für die nötigen Finanzen sorgt?


PC: Darum kümmere ich mich auch, denn sonst müsste ich die Entscheidung eines anderen akzeptieren. Finanzielle Fragen sind immer auch künstlerische. Wenn ich ein Projekt anfange, muss ich wissen, wie viel Geld zur Verfügung steht, damit ich entsprechend haushalten kann. Reicht das Budget nicht, muss man pragmatisch sein. Ich stecke meine Nase in Rechnungen, um Einfluss zu haben und Verantwortung zu übernehmen.


BF: Wie hoch war das Budget?


PC: Nur ca. 13 Mio. Mark. Leider stieg kein englischer Finanzier ein. So war es eine sehr teure Lösung, einen französischen Film in England zu drehen. Zumal wir aus gewerkschaftlichen Gründen ein Riesenteam engagieren mussten - völlig überflüssig. Da tauchten 30 Lastwagen und 50 Leute auf, um in einem engen englischen Treppenhaus zu drehen. Bei den Liebesszenen sind dann alle in die Kantine gegangen, nur vier Leute blieben. Für diese Art von Film stören solche riesigen Crews nur.


BF: Wie konnten Sie die Schauspieler von den offensiven Sex-Szenen überzeugen?


PC: Sie mochten die Figuren und deren Entwicklung, sie wussten auch, was auf sie zukam, und leisteten Großartiges. Es ging ja nicht um Körpergymnastik, sondern um echte, darzustellende Gefühle.


BF: Dazu benötigt man viel Vertrauen.


PC: Die Voraussetzung für gutes Arbeiten. Ich habe eine starke Beziehung zu den Akteuren. Ein Regisseur muss ihnen helfen, das Beste aus sich herauszuholen. Nur wenn sie mit ihm besser sind als ohne ihn, hat er seine Funktion erfüllt. Man führt und wird geführt. Diese Wechselwirkung macht den Reiz aus. Zwei Dinge sind wichtig: Man muss Schauspieler wirklich mögen. Und man darf sie nicht fürchten, muss auch mal Nein sagen können.


BF: Wie bereiten Sie Ihre Filme vor?


PC: Ich bereite Filme nicht bis ins kleinste Detail vor, sondern entscheide grundsätzlich am Set. Drehen ist das Schwierigste, man kann schnell in einer Sackgasse landen. Erst am Ende des Tages weiß man, ob man das bekommen hat, was man wollte oder nicht.

Goldener-Bär-Gewinner Patrice Chéreau zu "Intimacy"