Blickpunkt:Film

Festival

[Andreas Lewin](/person/andreas-lewin) ist seit Anfang des Jahres neuer Leiter des [Braunschweig International Film Festival](/company/braunschweig-international-film-festival-biff) ([wir berichteten](/article/neuer-festivaldirektor-in-braunschweig-50fb6658b1f443e4dae4a781b8e73ad4)). Warum die 34. Edition, die am 2. November startet, als reines Online-Filmfest abgehalten wird und welche Ideen er für das Festival hat, erzählt er im Interview mit Blickpunkt:Film.


Viele Festivals mussten dieses Jahr Corona-bedingt entweder abgesagt oder verschoben werden oder wählten einen Sonderweg, der oft (weniger) Vorstellungen im Kino plus ein virtuelles Angebot umfasst. Das Filmfest Braunschweig hat sich hingegen für eine reine Onlineausgabe entschieden. Was waren die Überlegungen?


Zwei Dinge waren für uns besonders wichtig: die Gesundheit des Publikums und eine planbare, verlässliche Festival-Variante, mit der wir unbeschadet durch die Krise kommen. Denn die Prognose, dass im Herbst eine zweite Welle ansteht, gab es bereits. Ebenso war uns klar, dass wir Sachsponsoren verlieren, mit großen Einnahmeverlusten rechnen müssen, bestimmte Fördermittel wegfallen und es keine Corona-Hilfen für Filmfestivals geben wird (außer für Investitionen zur Digitalisierung). Darüberhinaus wollten wir über genügend Mittel verfügen, um die Verleiher bzw. die Filmemacher*innen ohne Abstriche, wie bisher, für die Präsentation ihrer Werke angemessen zu bezahlen und die Prämierung der Werke in vollem Umfang zu ermöglichen. Solidarität mit den Filmemacher*innen war also ebenfalls ein zentrales Anliegen und das kam gut an: ca. 95 Prozent waren mit der reinen Online-Lösung einverstanden. Es ging in jedem Detail um proaktive Handlungsstrategien; wir wollten Herr der Lage bleiben.


Eine hybride Variante zu veranstalten, war für uns ausgeschlossen, denn in Braunschweig steht weder eine große Anzahl an Kinos zur Verfügung (um Einnahmeausfälle auszugleichen), noch haben wir einen Etat wie bspw. [Hamburg](/company/filmfest-hamburg) oder [Leipzig](/company/dok-leipzig-internationales-leipziger-festival). Obwohl wir zuletzt mit 28.000 Zuschauern mehr als der Hälfte der Zuschauer dieser beiden Festivals verzeichneten, verfügen wir nur über einen Bruchteil ihrer öffentlichen Förderung. Es war uns auch wichtig, ein substantielles Programm zu bieten, in dem die traditionellen Filmreihen und Preise erhalten bleiben, sodass unser Publikum sein Festival auch wiedererkennt und nicht nur auf Programm-Ruinen starrt. Jedes Filmfestival hat eben seine spezifischen ökonomischen und organisatorischen Grundvoraussetzungen und eine Geschichte, auf deren Grundlage in Ausnahmesituationen Entscheidungen getroffen werden.


Hagelte es auch Kritik?


Erstaunlich wenig, eher im Gegenteil, mir wurde sogar dazu gratuliert! Wir stießen meist auf großes Verständnis, natürlich seitens der [Nordmedia](/company/nordmedia-film-und-mediengesellschaft-niedersachsenbremen-mbh) und auch von unserem treuen Hauptsponsor Volkswagen Financial Services, aber auch z.B. vom hiesigen [Astor-Kino](/company/astor-filmtheater). Ich halte wenig von der derzeit branchenüblich betriebenen Polarisierung, dass nur jene Festivals solidarisch mit den Kinos sind, die bereit sind, vor fast leeren Sälen weiterzuspielen. Hier gibt es viele falsche Töne und eine Verdeckung von Machtstrukturen. Das nun beschworene sogenannte "Ökosystem" zwischen Kinos, Verleihern und Festivals befindet sich doch schon seit längerer Zeit im Umbruch und es gibt Konkurrenz, auch in Braunschweig. Ich verstehe jedoch den Impuls in Krisenzeiten an einer alten Ordnung festzuhalten.


Sie haben sich Ihren Start als neuer Leiter des Filmfestivals in Braunschweig Anfang des Jahres sicher anders vorgestellt. Wie haben Sie und Ihr Team die diesjährige 34. Runde überhaupt konzipiert und geplant?


Ich bin erleichtert, dass Sie mich nach unserem Programm fragen! Denn die gesamte Berichterstattung über Festivals in Corona-Zeiten bezieht sich mehr oder weniger auf die Schwierigkeiten und Defizite, und viel zu wenig auf die vorhandene und geschaffene Qualität des Programms. In Deutschland lautet es allzu oft: "Das kann ja nichts werden." Dabei gibt es zahlreiche Erfolgsgeschichten im Online-Bereich auf internationaler Ebene (wie jüngst in Toronto). Hier dreht sich zu viel um die Frage WIE präsentiert wird und viel zu wenig um das WAS präsentiert wird. Man scheint vergessen zu haben, dass Festivals zur Förderung der Filmkultur erfunden wurden.


Doch zurück zur Entstehung unseres Programms: Wir haben früh die Anzahl der Filme und der Filmreihen festgelegt. Den "Musik & Film"-Schwerpunkt mussten wir schweren Herzens in den einstweiligen Tiefschlaf versetzen, weil hier die Kosten sehr hoch sind. Junges Europäisches Kino steht bei uns nach wie vor im Mittelpunkt und eine eigene Dokumentarfilmsektion sollte dazukommen. 40 Prozent der Filme stammen von Frauen und den Anteil an Deutschlandpremieren konnten wir mehr als verdoppeln. Sieben Filme sind auf der aktuellen Shortlist der European Film Awards gelandet.


Thematisch handelt das Programm u.a. von widerständigem Verhalten in familiären und politischen Ausnahmesituationen, vom Umgang mit Traumata und von der Rückeroberung der eigenen Geschichte. Die Preisverleihung ist übrigens physisch im Kino im nächsten Frühjahr geplant.


Mit welchen Ideen sind Sie angetreten und konnten Sie davon schon die ersten auch umsetzen?


Es gab neue Ideen für Kooperationen und Formate, z.B. im filmmusikalischen Bereich, die dann hoffentlich im nächsten Jahr umgesetzt werden können. Im Hauptwettbewerb war es mir wichtig, nicht nur Geschichten von Heranwachsenden zu präsentieren und die Themenwahl diverser und politisch-persönlicher zu akzentuieren. Außerdem wollte ich thematische Filmreihen auch durch ästhetisch beeindruckende Filme stärken. Die Einführung einer neuen internationalen Dokumentarfilmsektion konzentriert sich dieses Jahr auf Filme zur Kunst, wobei ich den Länderschwerpunkt Kanada aus Berlin von meinem Festival DOKUARTS schon fertig produziert mitgebracht habe. Im Zuge meines Wechsels haben sich neue Kooperationen und Förderungen ergeben: u.a. mit dem Kunstverein Braunschweig, der European Film Academy, dem Fotomuseum Braunschweig und Arte.


Wie sehen Sie die Zukunft von Filmfestivals generell? Wird Corona einen bleibenden Fußabdruck im Umgang mit hybriden Ausspielformen hinterlassen?


Ja, ganz sicher. Digitalisierung und Nachhaltigkeit werden eine größere Rolle spielen als bisher. In den USA gibt es bereits Beispiele, wie Kino und Streaming Hand in Hand gehen können.


Was stellen Sie sich generell für die Zukunft des Braunschweiger Filmfestivals vor?


Der Musik & Film-Schwerpunkt soll erweitert werden, indem nicht nur klassische Filmmusik präsentiert, sondern auch experimentellere Musik und z.B. dem Jazz mehr Raum gegeben wird. Die traditionellen Wettbewerbe sollen erhalten bleiben. Die neue Dokumentarfilmschiene könnte auch Wissenschaftsthemen einbeziehen. Jüngere Publikumsschichten könnten u.a. durch die Einbeziehung von künstlerischen Dokumentar- und Essayfilmen stärker angesprochen werden. Aber der Hauptfokus liegt weiterhin auf dem internationalen Spielfilm.


Das Gespräch führte Barbara Schuster

Andreas Lewin, Leiter des Filmfests Braunschweig: "Wir wollten Herr der Lage bleiben"