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Festival

TORONTO Tag 4: Schreie und Flüstern

Noch mehr Filme aus Venedig in Toronto, mit "Pieces of a Woman" und "Nuevo Orden" zwei weitere Preisgewinner, jeder für sich harter Stoff. Und zum Ausgleich endlich der neue François Ozon, der zwar auch morbide ist, aber wenigstens vom Rausch der ersten Liebe erzählt.

Thomas Schultze14.09.2020 12:45
Vanessa Kirby wurde für ihre unfassbare Leistung in "Pieces of a Woman" in Venedig prämiert
Vanessa Kirby wurde für ihre unfassbare Leistung in "Pieces of a Woman" in Venedig prämiert TIFF

Es gibt Filme, die sind wie ein entzündeter Nerv, ihre Emotionen sind so roh, dass man sie als Zuschauer ganz unmittelbar spürt, die sind so direkt und gehen tiefer, als man es gewohnt ist im Kino, das ja auch immer eine Flucht vor der Realität ist. Das mag der Grund sein, warum "Pieces of a Woman" von Kornél Mundruczó gerade mit Cassavetes verglichen wird oder mit Bergman, den beiden ewigen Wahrheitssuchern des Weltkinos, für die Filme immer auch offene Wunden waren, die man nicht bedecken und verarzten, sondern schonungslos untersuchen und sezieren muss. Zumindest auf die erste halbe Stunde des ersten komplett auf Englisch und mit amerikanischen und englischen Schauspielern gedrehten Films des ungarischen Filmemacher trifft das unbedingt zu, wenn man als Zuschauer in einer ungeschnittenen Einstellung miterlebt, wie eine Hausgeburt den schlimmst möglichen Ausgang nimmt: Zwar gelingt es der Hebamme, den zunehmend schwachen Herzschlag des Babys zu stabilisieren und es lebend auf die Welt zu bringen, doch dann hört es in den Armen der Mutter unvermittelt auf zu atmen und stirbt. Es ist ein erschütternder Filmauftakt, nur deshalb zu ertragen, weil der Regisseur, sein Kameramann und seine Schauspieler auf absolut höchstem Niveau agieren. Der Moment ist so echt, wie Kino sein kann, und hat doch eine transzendierende Kraft: Warum würde man sonst noch weiterzusehen wollen, wenn der nackte Horror gleich am Anfang des Films steht?

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