Blickpunkt:Film

Kino

Seit mehr als zehn Jahren ist [Melina Matsoukas](/person/melina-matsoukas) Weltklasse als Musikclip-Regisseurin - sie hat mit Künstlern wie Beyoncé, Rihanna oder Solange gearbeitet. Gerade wurde sie für ihr Filmdebüt ["Queen & Slim"](/movie/queen-und-slim) bei den DGA Awards als beste Erstlingsregisseurin nominiert. Blickpunkt:Film sprach mit ihr über ihre Arbeit. "Queen & Slim" startet morgen in den deutschen Kinos.


Ihr Film wurde mit "[Bonnie und Clyde](/movie/bonnie-und-clyde)" und ["Thelma & Louise"](/movie/thelma-und-louise) verglichen. Finden Sie das angemessen?


Melina Matsoukas: Das sind gute Filme, und wahrscheinlich sollte ich mich geschmeichelt fühlen. Aber nein, ich finde das nicht angemessen. Ich finde meinen Film absolut eigenständig, eine Arbeit, die absolut für sich allein steht und für sich allein spricht. Wenn überhaupt, sehe ich "Queen & Slim" in der Tradition des Black Cinema. Schwarze Filme sollten in ihrem eigenen Raum und auf ihrer eigenen Plattform existieren können, ohne mit den weißen Hollywood-Archetypen, die uns allen vertraut sind, verglichen zu werden. Queen und Slim sind für mich Figuren, die ihr eigenes Leben führen und eine gemeinsame Reise unternehmen, die nur die ihre ist. Es ist eine Reise, wie sie nur heute möglich ist. Die Umstände, in denen wir leben, beeinflussen, wie die beiden Hauptfiguren zusammenkommen. Ihre Verbindung steht auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geschichte der Sklaverei und des Rassismus in meinem Land. Ihre Liebe und Gemeinsamkeit speisen sich daraus. Mir war es wichtig, dass es eine eigene Plattform gab, auf denen sie ihre Stimmen hörbar machen können.


Haben Sie den Eindruck, dass Sie einen zornigen, einen wütenden Film gemacht haben?


Melina Matsoukas: Überhaupt nicht. Für mich erzählt "Queen & Slim" einfach eine Liebesgeschichte. Freilich spielt sie einer Zeit voller Konflikte und Kämpfe, das klammern wir nicht aus, es ist einfach die Realität, in der wir leben. Aber es geht um die Verbindung zwischen diesen beiden Menschen, es geht um ihre Romanze, ihre Leidenschaft, die sich erst entwickeln kann, nachdem sie durch die Umstände förmlich aneinander gekettet werden.


Aber ein kämpferischer Film ist es dennoch... Müsste es in unserer Zeit nicht mehr davon geben?


Melina Matsoukas: Wenn Sie mit zornig und wütend meinen, wir seien rebellisch und würden den Status Quo in Frage stellen und herausfordern, dann ja, dann ist es ein zorniger Film. Es ist ein leidenschaftlicher Film. Weil ich an die Macht des Kinos glaube. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Kino die Macht besitzt, Menschen zusammenzubringen, einen Dialog zu fördern. Wir müssen Filme drehen, die Fragen stellen, die sich nicht mit dem bestehenden Zustand zufriedengeben, die zum Denken anregen. Im Idealfall haben sie eine Wirkung, befeuern eine Konversation. Filme haben eine gesellschaftliche Sprengkraft.


Denken Sie, dass das Kino im Jahr 2020 immer noch die richtige Plattform dafür ist?


Melina Matsoukas: Ich muss mir nur die Reaktionen auf unseren Film ansehen, um die Frage mit Ja beantworten zu können. Das Publikum ist sehr berührt, die Diskussionen in den sozialen Netzwerken sind ungeheuer passioniert. Da passiert etwas. Ich spüre dasselbe, was ich gespürt habe, als ich in meiner Jugend ins Kino gegangen bin. Filme haben mich geformt, haben mir Möglichkeiten aufgezeigt, haben mir Trost gespendet und mich ermutigt. Sicher, heute gibt es zahllose Formen des Filmemachens und viele andere Plattformen, die einem den Zugang zu Filmen ermöglichen. Ich denke einfach, dass Menschen sich durch Kunst veranlasst sehen, eine Konversation zu beginnen. Mir ist das immer wieder passiert, sei es durch einen meiner Musikvideos, sei es jetzt durch meinen Film. Man fühlt sich ganz unmittelbar angesprochen, sie lösen einen bisweilen explosiven Dialog aus. Es steckt eine Kraft in Bildern, es steckt eine Kraft in Repräsentation, wenn man sich selbst auf der Leinwand wiedererkennt. Das bewegte Bild ist meine Form des Aktivismus. Was wir machen, ist Protestkunst. Wir stehen auf den Schultern all derer, die vor uns ein künstlerisches Medium gewählt haben, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen: Musiker oder Filmemacher, die ihre Kunstform genutzt haben, um ihre Stimme zu erheben. Ich bin stolz, Teil dieser Ahnenreihe sein zu können.


Welche Filme waren es, die Sie geprägt haben?


Melina Matsoukas: Da muss ich als erstes natürlich ["Do the Right Thing"](/movie/do-the-right-thing) von [Spike Lee](/person/spike-lee) nennen. Ich bewundere, wie es diesem Film gelungen ist, seine Finger so punktgenau am Puls der Zeit gehabt zu haben. Es ist ein brillanter Kommentar dazu, was der schwarzen Community damals auf den Nägeln brannte - und uns im Amerika von heute immer noch unverändert auf den Nägeln brennt. Dieser Film hatte einen unglaublichen Einfluss auf mich als Mensch und als Filmemacherin. Wichtig war für mich auch ["Belly"](/movie/belly) von [Hype Williams](/person/hype-williams) (deutscher Titel: "White Lines - Im Teufelskreis des Verbrechens"), ein außergewöhnlich starker Regisseur, der meine Kultur in einer Form zelebriert und fotografiert hat, dass meine Generation schwarzes Leben in unserem Land danach mit völlig anderen Augen gesehen hat. [Julie Dash](/person/julie-dash) zeigte mir in "Daughters of the Dust" eine schwarze Welt mitten in den USA, die mir völlig fremd war und in die ich mich sofort verliebt habe. Ich wollte mehr erfahren über diesen Ort und seine Menschen. Es ist ein Film, der eine ganz eigene Sprache verwendet. [Mira Nair](/person/mira-nair) ist ein großes Vorbild. An [Wong Kar-Wai](/person/wong-kar-wai) liebe ich, wie er Liebe fotografiert, so üppig und satt und leidenschaftlich: Seine Bilder erzählen, was 1000 Worte nicht könnten. Man versteht sofort die emotionale Bindung seiner Figuren.


Offenkundig lieben Sie das Kino. Warum hat es so lange gedauert, dass Sie Ihren ersten Film gemacht haben?


Melina Matsoukas: Ich hatte nicht den Eindruck, Dinge überstürzen zu müssen. Ich war in anderen filmischen Medien sehr erfolgreich und konnte mich darin verwirklichen. Ich konnte also einfach abwarten, weil ich einen Film erst machen wollte, wenn es ein Stoff ist, den ich wirklich faszinierend finde, der meine Leidenschaft entfacht, an den ich voll und ganz glaube. Ich bin kein Autor. Das steckt nicht in mir. Deshalb dauerte es, bis ich [Lena Waithe](/person/lena-waithe) traf. Es hat sofort geklickt zwischen uns. Wir haben uns kennengelernt bei der Episode "Thanksgiving" der Serie ["Master of None"](/tvshow/master-of-none), und es war, als würden uns schon ewig kennen. Während der Dreharbeiten saß sie am Drehbuch von "Queen & Slim". Sie sagte sofort, dass ich die Regie übernehmen müsste. Ich war erst einmal etwas zurückhaltend. Mir gefällt es nicht, mir von einer Freundschaft diktieren zu lassen, was ich beruflich mache. Dann las ich das Drehbuch. Es war, als befände sie sich in meinem Kopf. Es war politisch, es war Protestkunst, aber es war eben auch eine tolle Liebesgeschichte, ein Stoff, der sich nicht auf ein Genre festnageln ließ. Das Leben ist auch kein Filmgenre. Der Film spiegelt wider, wie es sich anfühlt, als schwarzer Mensch im Amerika des Jahres 2019 zu leben. Außerdem fühlte ich mich unglaublich gut unterhalten bei der Lektüre. Mir war sofort klar: Das ist es. Das muss mein erster Film werden. Obwohl ich nicht die Autorin bin, war mir bewusst, dass ich meine ganze Seele reinstecken können würde.


Auch während des Drehs blieb Lena Waithe ständig involviert. Es ist ungewöhnlich für einen Filmemacher, einen Autor so nahe an sich heranzulassen.


Melina Matsoukas: Ich nenne sie meine Arbeitsehefrau. Unsere Partnerschaft ist außergewöhnlich. Wir ergänzen uns sehr gut, und zwar auf eine Weise, dass man sich nicht gegenseitig auf die Füße tritt. Ich bin keine Autorin. Und sie wird ziemlich sicher zugeben, dass sie keine Regisseurin ist. Wir respektieren, was der jeweils andere mit an den Tisch bringt. Für mich war es eine tolle Erfahrung, sie als Unterstützung an meiner Seite zu wissen. Wir haben alles gemeinsam gemacht. Es ist zu gleichen Teilen unser Film. Wissen Sie, für mich ist das die Essenz des Filmemachens: Es ist eine gemeinschaftliche Arbeit. Ein Film entsteht nicht auf einer Insel. Es ist keine One-Person-Show. Ich sage gerne, in unserem Film geht es um schwarze Liebe, für mich ist das ein revolutionärer Akt. Und ein bisschen sehe ich auch unsere Zusammenarbeit so, schwarze Liebe, ein revolutionärer Akt.


Sie hatten enorme kreative Freiheiten bei der Produktion von "Queen & Slim". Unter anderem trafen Sie die Entscheidung, auf analogem Film zu drehen.


Melina Matsoukas: Ich habe Film studiert und im Anschluss Kinematographie in meinem Master's Program. Film hat mich als Material immer fasziniert, ich habe viele Musikvideos auf Film gedreht. Der digitalen Welt habe ich lange widerstanden. Film hat eine Seele, eine Textur, es gibt eine tatsächliche chemische Reaktion auf Zelluloid, die sich anderweitig nicht reproduzieren lässt. Wenn Leute digital drehen, versuchen sie immer das Gefühl und den Ton von Film nachzumachen. Warum also nicht gleich auf Film drehen? Wenn ich mir meine eigene Arbeit ansehe, dann bin ich auf jene Arbeiten am stolzesten, die ich auf Film gedreht habe. Mir war klar, dass ich mit aller Macht darum kämpfen würde, bei meinem ersten Spielfilm auf Film drehen zu können. So ungewöhnlich ist es auch wieder nicht: Seit Anbeginn der Geschichte des Films wurde auf Film gedreht. "Queen & Slim" wäre nicht so wirkungsvoll, wenn ich ihn anders hätte realisieren müssen.


Was waren die besonderen Herausforderungen beim Dreh auf Film?


Melina Matsoukas: Erst einmal belastet Film das Budget. Der analoge Dreh ist teurer als das Drehen mit Digitalkameras. Der Prozess ist aufwändiger und komplexer. Man braucht mehr Licht. Film ist weniger empfindlich als digital. Besonders bei Nachtdrehs muss man aufpassen. Und natürlich gibt es Limitierungen, wieviel man drehen kann: Eine Filmrolle hat nur eine gewisse Länge. Und man hat nicht beliebig viele Filmrollen zur Verfügung. Wenn man digital dreht, kann man soviel drehen, wie man will. Wenn man mit Film arbeitet, muss man im Vorfeld klare Entscheidungen treffen, was man festhält und was nicht. Man muss gut vorbereitet sein. Ich habe soviel geprobt wie möglich. Man kann sich 20 Klappen pro Einstellung einfach nicht leisten. Hin und wieder vielleicht, aber nicht während der gesamten Produktion. Die Kamera kann nicht einfach mitlaufen. Es kostet Zeit, die Filmrollen auszutauschen. In engen Räumen wird es heikel, weil analoge Kameras viel größer sind. Es war hart. Aber wir haben es durchgezogen. Und ich denke, diese Erfahrung hat uns alle bessere Filmemacher werden lassen.


Ihr Film ist ein positives Beispiel dafür, dass Diversität auch in Hollywood möglich ist. Haben Sie den Eindruck, dass sich aktuell tatsächlich ein paar Dinge zum Besseren wandeln?


Melina Matsoukas: Es gibt eine Menge Veränderungen. Es passiert jetzt. Es passiert zwar nicht in einer Geschwindigkeit, die ich als befriedigend erachten würde oder dass man die Korken knallen lassen müsste. Es ist noch ein weiter Weg, den wir zurücklegen müssen. Deshalb sind Filme wie "Queen & Slim" so wichtig, weil sie uns zeigen, dass es möglich ist. Dass es möglich für Frauen ist, ihre Projekte nach ihrer Vision umzusetzen. Dass es möglich für Schwarze ist, ihre Projekte nach ihrer Vision umzusetzen. Wir dürfen jetzt nicht lockerlassen. Wir müssen die Türen öffnen, dass viele verschiedene Stimmen die Möglichkeit erhalten, gehört zu werden. Dafür kämpfe ich jeden Tag. Und ich ermutige andere Filmemacher und Entscheider in der Branche, es ebenfalls zu tun.


Das Gespräch führte Thomas Schultze

Melina Matsoukas zu "Queen & Slim": "Veränderung ist jetzt"