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Festival

VENEDIG Tag 4: Natural Born Joker

Wie man es auch dreht und wendet: "Joker" ist der Film, auf den das Publikum in Venedig gewartet hat. Todd Phillips und sein unfassbarer Star Joaquin Phoenix erfüllen die hohen Erwartungen.

Thomas Schultze31.08.2019 17:19
Der "Joker" sorgt für Furore auf dem Lido in Venedig
Der "Joker" sorgt für Furore auf dem Lido in Venedig Warner Bros.

Schon in Cannes konnte man das erleben: Die komplette Sélection officielle klang spannend und vielversprechend, vor Ort merkte man dann aber doch schnell, dass es nur einen Film gab, auf den wirklich hingefiebert wurde, auf den es ankam, die Weltpremiere von "Once Upon a Time in Hollywood". In Venedig wiederholt sich das Spektakel: James Gray? Soderbergh? Larrain? Baumbach? Kore-eda? Polanski? Alles schön, alles gut. Aber sie spielen dann doch nur zweite Geige, weil es wirklich um einen anderen Film geht. Um "Joker" von Todd Phillips, in dem Joaquin Phoenix in die Fußstapfen von Jack Nicholson, Jared Leto und vor allem Heath Ledger - der für seine Darstellung des beliebtesten aller Batman-Bösewichte in "The Dark Knight" posthum mit dem Oscar geehrt wurde - tritt, um in einem ersten Standalone-Film zu erzählen, wie aus dem unscheinbaren Nobody Arthur Fleck der Joker werden konnte. Die Spannung war also groß, als sich für die erste Pressevorführung am heutigen Samstag morgen bereits eine Stunde vor dem angekündigten Start um 8 Uhr 30 Schlangen zu bilden begannen. Dass das Publikum dann erst zehn Minuten nach dem angepeilten Starttermin eingelassen wurde, hat einerseits gute Venedig-Tradition, erhöhte andererseits die Vorfreude zusätzlich.

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Dass es sich bei "Joker" nicht einfach um eine weitere DC-Comics-Verfilmung handeln würde, hatte Regisseur Phillips bereits vor Beginn der Produktion erklärt, so wie auch klar war, dass der Film sich nicht in einen der schon bestehenden Batman-Erzählstränge einbinden ließe. Wenn überhaupt, dann steht der von Heath Ledger in "The Dark Knight" gespielte Joker der Inkarnation von Joaquin Phoenix am nächsten, aber gewisse Ereignisse in dem neuen Film stellen auch klar, dass es keine unmittelbaren Anknüpfungspunkte gibt. Ein erster Anfang April veröffentlichter Teaser rückte "Joker" in die Nähe der düsteren Vigilantenfilme, die Martin Scorsese mit Robert De Niro gedreht hat. Speziell "Taxi Driver" und "King of Comedy" sind offenkundige Referenzpunkte. Von einer Hommage oder Kopie zu reden, ist aber auch nicht richtig. Vielmehr sind die Verweise auf diese beiden Filme ganz fein in die Textur von "Joker" eingeflochten, wie einzelne Fäden. Tatsächlich verweist Todd Phillips' Film auf eine Reihe weiterer Filme aus den Siebzigerjahren. Die endlose Treppe, auf der der Joker tanzt, erinnert an die Treppe, auf der Jason Miller in "Der Exorzist" zu Tode stürzt. Wie seine Figur, Pater Karras, lebt auch Arthur Fleck allein mit seiner pflegebedürftigen Mutter. Der Angriff von drei betrunkenen Wall-Street-Bankern auf den scheinbar wehrlosen Arthur Fleck in der U-Bahn findet sich fast identisch in "Ein Mann sieht rot". Wenn die drei Banker dabei eine alte Musicalnummer anstimmen, dann muss man sofort an die "Singin' in the Rain"-Sequenz aus "Clockwork Orange" denken, während ein anderer Moment die "Here's Johnny"-Szene aus "Shining" zum Vorbild hat. Eine Hatz über einen U-Bahn-Hof kennt man so ähnlich aus "French Connection". Man fühlt sich erinnert an "Einer flog über das Kuckucksnest" ebenso wie "Network", man fühlt sich nicht erinnert an irgendeine Comicverfilmung, die es bislang gegeben hätte. Der ganze Film ist wie ein aus dem Kino der Siebzigerjahre zusammengesetztes Puzzle, zusätzlich aufgeladen um das Wissen um den Son of Sam, den Mord an John Lennon, das Attentat auf Reagan, das Hinckley nach Vorbild von "Taxi Driver" begangen hatte, um die Aufmerksamkeit von Jodie Foster zu erregen. Nicht von ungefähr erlebt man den Vater von Bruce Wayne hier, den Milliardär Thomas Wayne, gespielt von Brett Cullen, als eine Mischung aus Reagan und John Wayne: ein übermächtiger Magnat von altem Schrot und Korn, der den Schmutz aus den Straßen von Gotham beseitigen will, wenn man ihn denn zum Bürgermeister wählt.

Ebenso nicht von ungefähr beginnt der Film mit dem alten Logo von Warner Bros., wie es von 1972 bis 1990 verwendet wurde. Denn "Joker" ist kein Film des Studios, das Leichtgewichtiges wie "Man of Steel", "Justice League" oder "Suicide Squad" produziert, sondern ein Film des Studios, das in seiner Geschichte mit revolutionären Filmen wie "Bonnie und Clyde", "The Wild Bunch", "Clockwork Orange" oder "Natural Born Killers" immer wieder Risiken eingegangen ist und dabei den Finger verblüffend genau am Puls der Zeit hatte. Schnell realisiert man auch, dass Todd Phillips in seiner Origin-Story nicht versucht zu erklären, wie ein normaler Mann zu einem irren Bösewicht wie der Joker werden kann. Sein Arthur Fleck ist von Anfang ein verwirrter, gestörter Mann, den nur sieben verschiedene Medikamente und ein wöchentlicher Besuch bei einer Dame vom Sozialamt halbwegs auf Spur halten. Wenn er in Stresssituation gerät, beginnt Arthur hemmungslos zu lachen, wie eine Hyäne, bis er keine Luft mehr bekommt und zu ersticken droht. Selten war es trauriger, einen Mann Lachen zu sehen. Er arbeitet als Leihclown bei einer Agentur und träumt davon, einen Durchbruch als Standup-Comedian zu feiern, obwohl er für jedermann ersichtlich außer ihm selbst so lustig ist wie ein Herzinfarkt, und in der Fernsehshow seines Vorbilds, Murray Franklin, gespielt von Robert De Niro in der Jerry-Lewis-Rolle aus "King of Comedy", aufzutreten. Er hat sich ein bisschen in seine Nachbarin, die alleinerziehen Mutter Sophie, verliebt und kann sein Glück nicht fassen, als sie ihm ein Lächeln und ein bisschen Zuneigung schenkt. Und dann werden die ohnehin nicht allzu großen Hoffnungen eines Mannes, der nur aus Schmerz, Enttäuschungen und Verzweiflung zu bestehen scheint, nach und nach, Stück um Stück Zunichte gemacht. Und die tickende Zeitbombe namens Arthur Fleck wird scharf gemacht, während um ihn herum die ganze Stadt in Flammen aufgeht.

"Manche Männer wollen einfach nur die Welt brennen sehen", sagt der von Michael Caine gespielte Butler von Bruce Wayne in "The Dark Knight", um den Joker zu beschreiben und seine schier unerklärliche Freude an Wut und Zerstörung. Regisseur Todd Phillips kennt das auch. Bevor er den Jackpot knackte mit der "Hangover"-Trilogie drehte er Filme wie "Road Trip" oder "Old School", Komödien des Schmerzes und des Zorns, in dem die Helden ebenso mit dem Kopf gegen die Wand rennen wie Arthur Fleck in "Joker". Wenn man ganz zurück geht zu den Anfängen von Phillips stößt man auf "Hated", eine Dokumentation über die Kaputtpunklegende GG Allin, ein Mann, der sein kurzes Leben der Zerstörung des eigenen Körpers gewidmet hatte. Dass trotz der unverkennbaren Seelenverwandtschaften der Hauptfiguren in den Filmen des New Yorkers ein Meisterwerk wie "Joker" in ihm stecken würde, war nicht zu erwarten. Alles stimmt hier einfach in diesem Versuch, diese Comicfigur zu humanisieren und dabei noch monströser werden zu lassen, weil man ihn in einer realen, wiedererkennbaren Welt handeln lässt. Und doch würde der Film nicht funktionieren, wenn nicht Joaquin Phoenix den Joker spielen würde, in einer Darstellung, die über bloße Schauspielerei weit hinausgeht. Wie Phoenix die Tragik seiner Figur findet, deren Bestimmung es ist, hinter schmutzigem Make-up zu verschwinden und die Welt, die ihn immer missachtet und mit Füßen getreten hat, zur Hölle fahren zu lassen, macht klar, dass ein bisschen Arthur Fleck in uns allen steckt. Wir mögen denken, dass "Joker" eine Tragödie ist. Dabei handelt es sich um eine Komödie. Sie ist so schwarz, dass wir davon verschlungen werden.

Thomas Schultze

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