Blickpunkt:Film

Festival

Sieben Jahre sind vergangen, seitdem [Steven Spielberg](/person/steven-spielberg) in Cannes seinen ["Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels"](/movie/indiana-jones-und-das-koenigreich-des-kristallschaedels) vorgestellt hat, drei Jahre, seitdem er den Vorsitz der Jury inne hatte (und damals ["Blau ist eine warme Farbe"](/movie/blau-ist-eine-warme-farbe) sensationell die Goldene Palme überreichte). Nun ist der 69-Jährige wieder an die Croisette gereist. Und obwohl seine Roald-Dahl-Verfilmung ["BFG - Big Friendly Giant"](/movie/bfg-big-friendly-giant) nur außer Konkurrenz in der Sélection officielle läuft, wurde ihm, dem erfolgreichsten Filmemacher aller Zeiten, standesgemäß der rote Teppich ausgerollt.


Die Adaption des 1982 erschienenen Kinderbuchs "Sophiechen und der Riese" ist Spielbergs erster Ausflug in den Familienfilm seit 25 Jahren. In diesem Genre hat er mit ["E.T. - Der Außerirdische"](/movie/et-der-ausserirdische) - zufälligerweise im selben Jahr entstanden wie Dahls Buch - einen seiner erfolgreichsten Filme gemacht. Und mit ["Hook"](/movie/hook) eine der größten Enttäuschungen in seinem Werk. Wie sich der neue Film kommerziell schlagen wird, muss sich zeigen. Festhalten darf man aber, dass es Steven Spielberg und seiner jüngst verstorbenen Drehbuchautorin [Melissa Mathison](/person/melissa-mathison) gelungen ist, genau den unverkennbaren Ton und Rhythmus von Dahl zu treffen und eine treffsichere visuelle Übersetzung der einzigartigen Fantasiewelten des britischen Schriftstellers zu finden.


An "E.T." erinnert neben der Drehbuchautorin auch die grundsätzliche Prämisse, dass ein allein gelassenes Kind einen Vertrauten in einem nicht minder einsamen fantastischen Geschöpf findet. Die neunjährige Sophie ist ein "lost girl", eine Waise in einem Londoner Waisenhaus, deren Schlaflosigkeit dazu führt, dass sie mitten in der Nacht einen sieben Meter großen Riesen durch die Straßen streifen sieht, der sie kurzerhand mitnimmt und in seine Höhle im Riesenland entführt: Anfängliche Angst ist unbegründet. Der Riese ist freundlich gesinnt, er ernährt sich vegetarisch, redet lustiges Zeug und verbringt seine Zeit mit dem Sammeln von Träumen, die er dann nachts zu den Menschen bringt. Ein Problem sind seine viel größeren neun Brüder, die nichts lieber essen als Kinder und Jagd auf Sophie und den Guten Riesen (im Buch "GuRie" genannt), die erst zurückschlagen können, als sie sich die Unterstützung der Queen gesichert haben.


Bei aller Perfektion, technischen Brillanz mit einer furios wirbelnden Kamera und Nähe zu Themen, die den Filmemacher im Lauf seiner Karriere immer wieder interessiert haben, verschwindet Spielberg hier beinahe völlig hinter Roald Dahl. Er stellt sein Können voll und ganz in den Dienst der Geschichte und lässt erahnen, wie die "Harry Potter"-Filme hätten aussehen können, wenn er damals nicht abgewunken und Chris Columbus den Vortritt gelassen hätte. "BFG - Big Friendly Giant" weiß aber auch, dass keine noch so vertrackte Actionsequenz mit taumelnden Riesen, Ausflüge in ein magisches Traumland oder unangemeldete Besuche im Buckingham Palace eine große Nachhaltigkeit erreichen würden, wenn nicht die zentrale Freundschaftsgeschichte funktionieren würde. Hier leistet der britische Theaterschauspieler [Mark Rylance](/person/mark-rylance) - gerade erst für seine Rolle in Spielbergs letztjährigen ["Bridge of Spies - Der Unterhändler"](/movie/bridge-of-spies-der-unterhaendler) mit einem Oscar ausgezeichnet - in der Titelrolle Großartiges. Obwohl der GuRie komplett computeranimiert ist, sind Rylances Züge und Mimik unverkennbar: Sein Riese ist eine Mischung aus Cockney und Gibberisch sprechender Working Class Hero, den man schon längst in sein Herz geschlossen hat, wenn der Film noch mit ein paar Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen hat: Man glaubt dem Film, weil man Rylance glaubt.


Auf keinen Fall darf man aber auch den regulären Wettbewerb vergessen. Zumal [Park Chan-Wook](/person/park-chan-wook) nach zwei etwas unausgegorenen Filmen mit seinem perversen Erotikthriller ["The Handmaiden"](/movie/die-taschendiebin) wieder zu jener Großform aufläuft, die ihn mit seiner Rache-Trilogie international zum Regiestar hat werden lassen. Die vertrackte Dreiecksgeschichte, die lose auf dem Roman "Fingersmith" von Sarah Waters basiert, ist wie eine zum Fiebertraum ausgereizte Daphne-Du-Maurier-Geschichte, wenn sie von Brian De Palma inszeniert worden wäre: Eine koreanische Trickdiebin wird von einem Betrüger in den abgelegenen Haushalt eines unermesslich reichen Büchersammlers eingeschleust, wo sie sich das Vertrauen einer japanischen Erbin erschleichen soll, um es ihm zu erleichtern, ihr den Hof zu machen. Nach der Hochzeit soll sie in den Wahnsinn getrieben und ins Irrenhaus eingeliefert werden.


Es ist ein absolut hanebüchener Plan, aber man nimmt ihn diesem schwelgerischen Thriller jederzeit ab, weil Park ihn visuell so brillant inszeniert und zusätzlich erotisch auflädt. Zumal der Clou ist, dass in einem zweiten Teil offenbart, dass hinter dem bislang aus der Sicht der Betrügerin erzählten Plan ein noch viel verwegenerer Plan steht, der dann immer noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Wie die Wahrheit aus mehreren verschiedenen Winkeln beleuchtet wird, mag an ["Rashomon"](/movie/rashomon-das-lustwaeldchen) erinnern, ist aber eigentlich einer der virtuosesten Tricks von Brian De Palma: Man darf seinen Augen eben nicht immer trauen, wenn man nicht das gesamte Bild kennt. Dazu gibt es ein paar fetischistische Sexszenen, die genussvoll auf der Klaviatur des SM spielen - und obendrein eine wichtige Rolle in der Handlung spielen. Ein Highlight.


Die Schottin [Andrea Arnold](/person/andrea-arnold) kehrt nach "Wuthering Heights", den sie in Venedig vorstellte, wieder zurück nach Cannes, wo sie mit ["Red Road"](/movie/red-road) und ["Fish Tank"](/movie/fish-tank) ihre ersten Erfolge feiern konnte. ["American Honey"](/movie/american-honey) ist nun ihr erster Film, der in den USA spielt, aber wie ihre ersten beiden Filme interessiert er sich vornehmlich für Menschen aus der Unterschicht. Tatsächlich würde Arnolds Heldin aus "Fish Tank" nahtlos in die bunt aus Obdachlosen, Stromern und Ausreißern zusammengewürfelten Gruppe von Jugendlichen passen, die im Mittelpunkt des 162-minütigen Roadmovies stehen und durch ein niederschmetternd verarmtes Amerika fahren, um als Drückerbande Zeitungsabos zu verkaufen.


Vor allem interessiert sich der Film für den neu zur Gruppe gekommenen Wildfang Star, die das eingespielte Gefüge auf die Belastungsprobe stellt, weil sie sich in den besten Verkäufer, Jake, verliebt. Im Grunde passiert nicht viel auf der Reise durch die unwirtlicheren Abschnitte des Landes - ein bisschen wirkt "American Honey", als würden Larry Clarks ["Kids"](/movie/kids) auf eine Roadshow gehen. Andrea Arnold ist nicht so sehr an Plot gelegen; es geht ihr um Momentaufnahmen. Sie ist fasziniert von der Realität, die sie mit allen filmischen Mitteln nicht nur festzuhalten, sondern regelrecht zu penetrieren versucht. Deshalb ist ein %Shia LaBoeuf% in einer Hauptrolle in dieser Gruppe von in erster Linie Laiendarstellern eher Fehl am Platze. Zwar gibt es schon immer wieder sich zuspitzende Situationen, aber am meisten ist der Film bei sich, wenn er einfach nur mit den jungen Misfits in ihrem Bus ist, ihnen bei ihrem Gequatsche und dem Mitsingen von aktuellen Hiphop-Hits zusieht. Wenn man so will, ist es ein Film über Gemeinschaft und Zusammenhalt von Menschen, die nichts mehr haben als sich: In Trumps Amerika hilft man sich selbst, nur dann hilft einem Gott.


Thomas Schultze

TAG 4: Big Friendly Spielberg