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Blickpunkt:Film: Was sind die Charakteristika des diesjährigen Wettbewerbs?

Thierry Frémaux: Es ist schwierig, ein Ensemble von 20 Filmen zu definieren, wir haben die einzelnen Werke gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit ausgewählt. Ideal wäre es, wenn der Wettbewerb den Zustand der Welt und des Kinos reflektieren würde. Dieses Jahr konstatiere ich ein gutes Gleichgewicht zwischen dem innovativen Kino auf der Suche nach neuen Formen und dem traditionellen Kino des Geschichtenerzählens, wie auch ein interessantes Kräftemessen zwischen Europa und dem Rest der Welt.

BF: Was ist die Stärke des offiziellen Programms - Wettbewerb und Certain Regard?

"Matrix" hat nichts mit Konzessionen zu tun

TF: Das Geheimnis des Wettbewerbs liegt darin, Neugier auf Qualitätsfilme zu wecken. Obgleich ich alle Filme gesehen habe, könnte ich Ihnen keinen Favoriten nennen. Der Certain Regard fungiert als eine Art Laboratorium: Da gibt es einen marokkanischen Film und mehrere asiatische, auch meldet sich das argentinische Kino kraftvoll zurück. Gleichzeitig sind Spanien und England sehr präsent, ebenso Italien mit einem Film von sechs Stunden.

BF: Gibt es eine Tendenz im Weltkino, die sich im Programm widerspiegelt?

TF: Es liegt an Ihnen, die Filme zu entdecken. 2002 fielen beispielsweise &Michael Moore&, &Elia Suleiman& oder &Amos Gitai& durch einen extrem aktuellen Bezug auf. In diesem Jahr ist das weniger der Fall, selbst wenn [Samira Makhmalbaf](/person/samira-makhmalbaf) in "A cinq heure de l'après-midi" die Nachkriegs-Situation in Kabul aufgreift. Ich sehe keinen spezifischen Grund für diese Entwicklung, es gibt zweifellos Zyklen.

BF: Ist "[Matrix Reloaded](/movie/matrix-reloaded)" mehr als nur ein Publikums-Bonbon oder eine Konzession an das Mainstream-Kino?

TF: Für mich ist er ein Film wie jeder andere. Eine amerikanische Superproduktion und gleichzeitig auch ein Autorenfilm. Er passt wunderbar nach Cannes und hat nichts mit irgendwelchen Konzessionen zu tun. Populäre Unterhaltung wie "Matrix Reloaded" und ein Film mit Amateuren wie "[Elephant](/movie/elephant)" von [Gus Van Sant](/person/gus-van-sant) im Programm - voilà Cannes.

BF: Amerika ist im Wettbewerb mit drei Filmen vertreten, England nur mit einem. Folge von politischen Problemen oder der frostigen Atmosphäre zwischen Paris und Washington? Haben Produzenten Filme zurückgezogen oder ist dies eine bewusste Entscheidung von Ihnen?

TF: Keine Einflüsse außerhalb des Kinos determinieren die Beziehung zwischen Cannes und Hollywood oder Cannes und London. Gott sei Dank. Ich halte Amerika für gut repräsentiert mit drei Filmen im Wettbewerb, darunter zwei Neulinge wie [Vincent Gallo](/person/vincent-gallo) und Gus Van Sant und ein großer Klassiker wie [Clint Eastwood](/person/clint-eastwood), dazu noch zwei Filme außer Konkurrenz ("Matrix Reloaded" und "[The Fog of War](/movie/the-fog-of-war)"), ein Beitrag im Certain Regard. Zusätzlich kam noch [James Camerons](/person/james-cameron) "[Ghosts of the Abyss](/movie/die-geister-der-titanic-3d-imax)" ins Programm. England hat einen Film im Wettbewerb und zwei im Certain Regard. Finden Sie das schwach vertreten?

"Gleichgewicht aus Tradition und Innovation"

BF: Das Stichwort. Cannes gilt als Heimspiel für Franzosen - sei es mit rein französischen oder Koproduktionen. So mancher verzweifelter Produzent glaubt inzwischen, der beste Weg in den Wettbewerb führe über eine Koproduktion mit Frankreich.

TF: Produzenten, die darauf spekulieren, scheinen mir wenig inspiriert. Der beste Weg in den Wettbewerb ist ein guter Film, nicht eine Koproduktion. Ich bin überrascht, dass Sie so etwas sagen. Im Gegenteil, wir versuchen, nicht zu viele Koproduktionen zu platzieren, weil man sie als französische Filme betrachten könnte.

BF: Inwieweit beeinflusst der Niedergang von Canal Plus die finanzielle Situation des Festivals?

TF: Überhaupt nicht. Die Verträge wurden 2002 für drei Jah-re verlängert. Die Partnerschaft zwischen Cannes und Canal Plus geht weiter.

BF: Wie beurteilen Sie die Situation des europäischen Films?

TF: Etwas fragil, auch wenn Europa sehr gut vertreten ist, besonders im Certain Regard.

BF: Filme wie die von [Bertolucci](/person/bernardo-bertolucci), [Tarantino](/person/quentin-tarantino) oder den Coen-Brüder wurden nicht fertig. Eine herbe Enttäuschung?

TF: Natürlich ist man enttäuscht, wenn man Anfang des Jahres mit Angeboten von Bertolucci, Tarantino, den Coens, [Angelopoulos](/person/theodoros-angelopoulos), [Wong Kar-wai](/person/wong-kar-wai) oder [Jane Campion](/person/jane-campion) rechnet und sich wenige Monate später damit abfinden muss, dass sie es zeitlich nicht schaffen. Auch eine Enttäuschung für die Festivalbesucher. Hätten wir sie bekommen, ginge sicherlich das Palaver von den "[üblichen Verdächtigen](/movie/die-ueblichen-verdaechtigen)" wieder los.

BF: Im vergangenen Jahr bezeichneten Sie Gilles Jacob als idealen Lehrmeister. Sollte die "Lehrzeit" als künstlerischer Leiter im dritten Jahr nicht zu Ende sein?

TF: Gilles Jacob ist mein Lehrmeister und wird es bleiben. Und was meine Lehrzeit betrifft: Ich hoffe, dass sie nie aufhört und ich mein Leben lang weiterlerne.

Festivaldirektor Thierry Frémaux im Interview